Trauern und Loslassen. 2 Begriffe, die stark miteinander verwoben sind.
Wenn wir trauern, hören wir ganz oft den wohl gemeinten Ratschlag, dass wir lernen müssen, loszulassen.
Loslassen? Was heißt das? Wie geht das?
Ich persönlich glaube, dass „Du musst loslassen!“ einer der tragischsten Sätze überhaupt ist.
Was ich stattdessen in meinen Trauerreden mitgebe und warum loslassen uns von uns selbst entfernt, möchte ich im Beitrag „Warum ich NICHT über Loslassen spreche“ teilen.
Trauern und Loslassen
In unserer heutigen Gesellschaft hat Trauer wenig Platz. Wir lernen nicht in der Schule mit diesem so tiefen Gefühl umzugehen und zumeist auch nicht von uns nahestehenden Menschen.
Viele von uns tragen die Trauer des ganzen Familiensystems, vieler vorangegangener Generationen.
Wir spüren so viel und sprechen so wenig darüber.
Früher war das anders. Es gab lange Trauerzeiten. Es wurde öffentlich geweint und die Zeit der Trauer war eine besondere Zeit des Rückzugs und der Innenschau.
Heutzutage bekommen wir vom Arbeitgeber gerade einmal wenige Tage frei, wenn wir den Tod eines Menschen betrauern.
Denn das Leben muss weitergehen.
Und wir müssen loslassen.
Das Problem mit dem Loslassen
In unserer Gesellschaft geht es zumeist um schnelle Lustbefriedigung, den stetigen Kick und oft auch darum, sich selbst möglichst im besten Licht zu zeigen.
Social Media trägt mit hochglanzpolierten Fotos und Texten, die von immer erfolgreichen und glücklichen Menschen zeugen, entscheidend dazu bei.
Es ist naheliegend, dass Gefühle wie Trauer oder Schwere da nicht reinpassen.
Erschwerend kommt hinzu, dass
- wir als Gesellschaft nicht wissen, wie wir mit Trauer und trauernden Menschen umgehen sollen.
- welche Kraft in der Trauer und dem, was sie uns für das Leben lehrt, liegt.
- wir stets meinen, die Trauer muss irgendwann vorbei sein.
- wir trauernden Menschen oft den gut gemeinten Rat mitgeben, loslassen zu müssen.
- wir eine klare Vorgabe haben, ab wann Trauer als pathologisch bezeichnet werden muss. Ja, wirklich!
Auszug aus den Diagnosekriterien ICD-10:
Die Trauerreaktion hält atypisch lange nach dem Verlust an (mehr als 6 Monate) und überschreitet … Normen der eigenen Kultur und des Kontextes.
Warum uns Loslassen von uns selbst entfernt
Dieses erwartete schnelle Loslassen bringt ganz oft mit sich, dass der Trauerprozess nicht abgeschlossen werden kann:
Genau das ist vielen vorangegangenen Generationen passiert.
Allerdings waren es da andere Gründe, denn es ging oft um´s blanke Überleben und um das Stillen von Grundbedürfnissen, die den oft arbeitsreichen Alltag erschwerend bestimmt haben.
Wir sind mit eine der ersten Generationen, die vieles aus der Vergangenheit aufarbeiten kann.
Aber das braucht Zeit, Geduld und vor allem tiefes Eintauchen in unser Menschsein.
Es braucht die Philosophie über den Sinn des Lebens genauso wie das Vertrauen in den Kreislauf des Lebens und das Wissen und Fühlen darüber, dass im Universum alles miteinander verwoben ist.
Dass nichts und niemand getrennt von einander gesehen werden kann.
Wenn wir an diesem Punkt voll Vertrauen ankommen können, dann spüren wir auch, dass es keines Loslassens bedarf.
Denn unsere Trauer verbindet uns wie nichts anderes mit dem Leben und seinen Geheimnissen.
Warum die Trauer nicht vergeht und wir lernen dürfen, damit zu leben
Wenn es nur so einfach wäre.
Viele Menschen haben sich heutzutage vom „normalen Lauf des Lebens“ entfernt. Haben keinen wirklichen Zugang mehr zu ihren Gefühlen und ihren Wurzeln.
Und wenn sie dann mit dieser absoluten Ausnahmesituation, die eintritt, wenn ein Mensch stirbt, konfrontiert werden, dann wird das oft schmerzlich bewusst.
Aufkommende Trauer, Gedanken und Gefühle werden radikal verdrängt. Weil es einfach verdammt weh tut.
Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite gibt es viele Menschen, die ihre Gefühle von Trauer, Traurigkeit und Schwere so stark spüren, dass es unmöglich erscheint, ihnen keine Aufmerksamkeit zu schenken.
Völlig egal, wie lange der Verlust oder die Trennung her ist.
Sie sind es, die mit dem Satz „Du musst endlich loslassen“ unglaublich gefordert sind.
Oder auch mit gut gemeinten Impulsen, wie
Augen zu und durch!
Komm schon, Kopf hoch, weiter geht´s!
Das wird schon!
Trauer ist jenes Gefühl, das uns wie kein anderes mit dem Leben verbindet.
Wenn wir diesem Gefühl erlauben, in unserem Leben präsent zu sein und uns zu begleiten, dann birgt es ein großes Geschenk für uns:
Jenes, uns wieder mit unserem Menschsein und unseren Wurzeln zu verbinden.
Trauern ist genauso wichtig wie heilsam. Im Großen und im Kleinen.
Denn wenn wir als Gesellschaft Trauer wirklich aufarbeiten, uns ihr stellen und es zulassen, dass sie uns wieder mit dem Leben verbindet, dann tragen wir dazu bei, dass vieles auf dieser Welt heilt.
Vor allem unsere Geschichte.
Denn sie hat uns immer weiter von unserem Ursprung als Menschen entfernt und den rationalen Verstand und materielle Werte mehr und mehr überbetont.
Das darf – das muss sich – wieder ändern. Denn das Leben und der Tod sind so viel mehr als wir mit unseren Augen sehen und unserem Verstand begreifen können.
FAZIT
Wir müssen NICHT loslassen:
Wir dürfen lernen mit unserer Trauer zu leben und sie als wertvolle Begleiterin zu sehen.
Eine Begleiterin, die uns trägt, uns Mut macht und – nicht zuletzt – wieder Vertrauen lehrt.
In den Trauerreden (ich sage auch gerne Lebensreden, anstatt Ausdrücke wie Nachruf oder Grabrede zu nutzen), die ich seit vielen Jahren halten darf, spreche ich nicht davon, einen Menschen loslassen zu müssen.
Ich spreche auch nicht davon, darauf zu hoffen, dass es ein Wiedersehen geben wird.
Ich teile meinen tiefe Überzeugung, dass nichts und niemand für immer verloren geht und alles auf ewig miteinander verbunden ist.
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